Luis Oberbeck – vom Nobody zum Olympiateilnehmer? Wie aus einem Außenstürmer beim Fußball einer der talentiertesten 800-Meter-Läufer Deutschlands wurde – und warum kaum jemand den Deutschen Meister aus Göttingen kennt. 

ZUR PERSON

Luis Oberbeck, geboren am 4. Juni 1999 in Neuhof bei Lamspringe, ist ein aufstrebender deutscher 800-Meter-Läufer. Ursprünglich als Außenstürmer für den MTV Almstedt in der Landesliga aktiv, wechselte er erst vor dreieinhalb Jahren zur Leichtathletik. Ein Freund überzeugte ihn, an einem Lauf teilzunehmen, und schnell zeigte sich sein Talent. 

Seine sportliche Karriere begann früh: Schon als Kind war er in der Jugend­sport­gemeinschaft der Region aktiv. Trotz seiner Liebe zum Fußball entschied er 2020, sich voll und ganz der Leicht­athletik zu widmen. 2021 spezialisierte sich der 1,93 Meter große Athlet auf die 800-Meter-Distanz. Mit Trainer Thomas Schmalz erzielte er rasche Fortschritte und wurde 2023 Deutscher Meister über diese Strecke. Mit Blick auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris trainiert er hart, um entweder die Olympianorm von 1:44,70 zu erreichen oder sich über die Weltrangliste zu qualifizieren.

Luis Oberbeck zieht bei sommerlichen Temperaturen im Göttinger Jahnstadion seine Runden. Gerne fällt in diesem Zusammenhang das Wort ,einsam‘, doch er ist alles andere als das: Eine Rentnergruppe mit Walkingstöcken belegt die Innenbahnen, vor der Tribüne bewegen sich weitere Sportler – vielleicht eine Betriebssportgruppe? – hin und her,  und an der Sprunganlage erklärt ein Vater seiner Tochter die Geheimnisse des Weitsprungs. Ganz schön was los also auf der Sportanlage – trotz des mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Eingangstors.

Unter den offensichtlich ambitionierteren Trainierenden befinden sich auch Oberbecks Freundin und einige andere sichtbar motivierte Athleten. So können sich die Aktiven gegenseitig pushen, und ein zusätzlicher Kick kann ja nicht schaden. Schließlich hat sich der 24-Jährige eines der höchsten Ziele gesetzt, die es für einen Leicht­athleten überhaupt gibt: Er möchte zu den Olym­pischen Spielen 2024 nach Paris. Die Spiele finden in diesem ­Sommer vom 26. Juli bis zum 11. August statt. Ab dem
7. August steigen die Qualifikations-, Hoffnungs- und Halbfinalläufe, das 800-Meter-Finale startet dann am 10. August. Traditionell finden die wichtigen
Leichtathletikentscheidungen erst kurz vor der Schlussfeier statt.

Jetzt fragt sich der eine oder andere nicht zu den absoluten Experten gehörende Leichtathletik­interessierte, wer dieser Luis Oberbeck ist. Aber immerhin wurde er doch 2023 über die Doppelstadionrunde in Kassel Deutscher Meister. Wie kommt es, dass nicht alle den Deutschen Meister kennen?

Es hört sich ein bisschen wie die Story eines amerikanischen Sportfilms an, wenn Oberbeck erzählt: „Ich bin vor dreieinhalb Jahren vom Fußball zur Leichtathletik gewechselt.“ Ein Freund habe ihn dazu überredet, bei einem Rennen mitzulaufen. Dabei qualifizierte er sich auf Anhieb für die Niedersächsische und die Norddeutsche Meisterschaft. Damals, auf der Alfelder Sportanlage, startete er neben dem Hochsprung noch für den 400-Meter-Lauf. Ohne Vorbereitung – abgesehen von seinem Fußballtraining – gewann er den Lauf und erreichte auf der Sprunganlage eine respektable Höhe von 1,85 Meter, was aber nicht für die vorderen Plätze reichte. „Am 1.500-Meter-Lauf konnte ich dann nicht mehr teilnehmen, weil ich zum Flughafen musste. Wir flogen mit dem Fußballteam nach Bulgarien“, erinnert er sich. Mit dem MTV Almstedt spielte er nämlich in der Landesliga. Auf der Außenbahn ließ er so manchen Verteidiger weit hinter sich.

Er liebte den Fußball und hatte von klein auf davon geträumt, als Fußballprofi Weltmeister zu werden. Seine Mannschaft wollte er dafür aber nicht verlassen. Die Vereinstreue ging so weit, dass er beim Kreisauswahltraining absichtlich schlecht spielte, was wohl der Anfang vom Ende einer großen Kickerkarriere bedeutete.

Diese Heimatliebe hat ihren Grund in der „tollen Kindheit, die ich hier hatte“, sagt Oberbeck. Er wuchs in Neuhof bei Lamspringe auf, einem Dorf mit gerade einmal rund 450 Einwohnern. Seine Freunde und seine ebenfalls kickende eineinhalb Jahre jüngere Schwester hielten sich, wann immer es nur ging, unter freiem Himmel auf. Noch im Kindergartenalter meldeten ihn seine sportbegeisterten Eltern in der Jugendsportgemeinschaft mehrerer Dörfer ihrer Heimatgegend an. „Das hatte noch nicht viel mit Fußball zu tun, aber ich habe es trotzdem geliebt“, sagt er zurückblickend.

Heute räumt er selbst ein, am Ball nicht der Geschickteste gewesen zu sein. So ging es dann im Anschluss an die Reise mit dem Fußballverein nach Bulgarien zwei­gleisig weiter, denn es eröffneten sich durch die Premiere in der neuen Sportart plötzlich neue Perspektiven. Der Erfolg in der ,Fremdsportart‘ Leichtathletik etwa ein­einhalb Jahrzehnte nach seinen ersten Kicks im Fußballklub, machte ihm Lust auf mehr. In seiner letzten ­Fußballsaison startete er schon quasi ,nebenbei‘ mit ­intensivem Lauftraining. Doch so reibungslos, wie erhofft, lief es anfangs nicht: Denn die Landesmeisterschaft, für die er sich so überraschend qualifiziert hatte, verpasste er. Ein Magen-Darm-Virus verhinderte den Start. Dafür fuhr er zum nächsthöheren Wettbewerb, der Norddeutschen Meisterschaft: „Ohne großes Training und mit den Spikes vom Abi wurde ich Achter über die 400 Meter.“

Das sorgte durchaus für Aufsehen in Läuferkreisen, und ein Bekannter vermittelte ihm ein Privattraining bei Rolf Geese in Göttingen, seines Zeichens Sportwissenschaftler a. D. und mehrfacher Seniorenweltrekordhalter und -weltmeister. Oberbeck wohnte inzwischen in der Unistadt und studierte Betriebswirtschaftslehre. „Rolf ist ein echtes Vorbild für mich und viele andere“, sagt Oberbeck, der fortan neben dem Fußballtraining und den Spielen auch ein- bis zweimal wöchentlich mit der Sportlegende trainierte. Geeses geschulte Augen wiederum erkannten das Talent des Laufneulings. Doch dem weiteren Training und dem erhofften steilen Aufstieg grätschte die Pandemie dazwischen. Oberbeck aber nutzte die Zeit: Zurück in der alten Heimat Neuhof trainierte er mit seiner Freundin. Ausdauer und Bergsprints standen immer wieder auf dem Plan. Nachdem er „ohne allzu intensives Training“, wie er immer wieder sagt, schnell die Norm zur Deutschen Meisterschaft über 400 Meter anpeilte, reifte in ihm eine Entscheidung: „Ich entschloss mich schweren Herzens, mich von den Mannschaftskollegen beim Fußball zu verabschieden.“ Böse waren sie ihm nicht: „Sie bedauerten es, hatten aber Verständnis.“ Leicht gemacht hat er sich diesen Schritt aber keineswegs, und das wussten auch seine Freunde. „Ich hatte einige schlaflose Nächte. Bis dahin galt für mich: 100 Prozent Fußball.“

Luis Oberbeck setzte also alles auf eine Karte: Ab 2021 trainierte er mit dem 400-Meter-Bundestrainer Edgar Eisenkolb einmal pro Woche in der Landeshauptstadt Hannover. Den Rest des Trainings – oft bis zu sechs Einheiten wöchentlich – absolvierte er auf den Göttinger Hochschulsportanlagen. „Das war viel zu viel. Ich war dauernd verletzt“, sagt er heute. Den Grund für diese Fehlplanung sieht er heute in seiner mangelnden Erfahrung: „Andere Läufer sind mit der Disziplin groß geworden. Sie haben von klein auf systematisch und kontrolliert trainiert.“ Oberbeck musste schmerzhafte Rückschläge hinnehmen und immer wieder verletzungsbedingt auf Starts verzichten. „Aber ich bereue den späten Einstieg nicht – ich habe viele andere schöne Erfahrungen gesammelt“, sagt er.  Seine erste komplette Saison brachte den Newcomer direkt bis zur U23-Europameisterschaft in Estlands Hauptstadt Tallinn. „Ich war total stolz, das National­trikot tragen zu dürfen“, sagt Oberbeck – wenn auch mit Wehmut, denn er war Ersatzläufer der 4 x 400-Meter-­Staffel und kam nicht zum Einsatz. Doppelt schwer: Er sah von der Tribüne aus, wie sein Team die Bronze­medaille überreicht bekam. „Das spornte mich an, das nächste Mal richtig dabei zu sein“, sagt er und zeigt
seine ehrgeizige Seite. Aus solchen Rückschlägen lernt er und nimmt die Motivation mit ins nächste Training. ,Immer 100 Prozent‘ lautete sein Motto beim Fußball – und so lautet es bis heute bei jedem Training und jedem Wettkampf.

In der Folge genoss er die Stimmung in großen Stadien wie Braunschweig oder auch die Auftritte bei etablierten Sportfesten in kleineren Sportanlagen. Gemeinsam mit dem Göttinger Trainerurgestein Thomas Schmalz, mit dem er seit März 2022 zusammenarbeitet, sollte die Saison 2021/22 die erste durchgeplante und hoffentlich verletzungsfreie werden. Seine Statur – er ist 1,93 Meter groß – und sein Laufstil führten zum Umstieg auf die 800-Meter-Distanz. Er erinnert sich an seine heimlich gelaufene Premiere über die neue Strecke: „Ich bin losgelaufen wie ein Verrückter und legte Welt­rekordtempo vor. Nach 550 Meter war dann aber Schluss – ich war körperlich völlig am Ende!“

Moralisch am Ende war er kurze Zeit später: Diagnose Hüftimpingement. Das bedeutete, die verengte Hüftgelenksspalte musste operiert werden. „Mein Körper war anscheinend immer noch nicht für die neuen Belastungen bereit“, sagt Oberbeck. „Aber ich glaubte weiter an meine Ziele. Denn inzwischen hatte ich schon viel investiert.“ In erster Linie meint er damit die Zeit und das eher auf Sparflamme vorangetriebene Studium. Finan­ziell unterstützten ihn in dieser Zeit seine Eltern. Mit Schmalz trainierte er nun individueller, nicht nach ,Schema F‘, und sehr gezielt auf seinen ersten Freiluftwettkampf über 800 Meter hin. Ergebnis: Er wurde niedersächsischer Landesmeister. Danach trat er in Pfung­stadt gegen die deutsche Spitze an. „Ich wollte eigentlich nur ein bisschen mitlaufen und habe dann das Rennen gewonnen“, erzählt er zufrieden und kann sich mit 1:48,65 auch an die respektable Siegerzeit erinnern.

In der folgenden Saison gab es viel zu lernen, und er gesteht ein, dass er bei den folgenden, teilweise dennoch erfolgreichen Rennen viele taktische Fehler machte. „Aber aus Niederlagen und Fehlern und der Videoanalyse mit dem Trainer lernt man viel mehr als aus guten Rennen.“ Wie zum Beweis gewann er im Sommer 2023 in Kassel tatsächlich die Deutsche Meisterschaft über 800 Meter. Dort ging auch sein inzwischen zum Freund und Trainingspartner gewordener Konkurrent Emil Meggle an den Start, konnte Oberbeck aber lediglich anspornen – nicht besiegen. Was für ein Moment: Das Smartphone wollte gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Plötzlich häuften sich die Presseanfragen. Und von jetzt auf gleich hatten ihn auch die Konkurrenz und die Funktionäre auf dem Zettel. Zum Saisonabschluss folgte noch die Universiade im chinesischen Chengdu. Die fasst er ernüchtert zusammen: „Das war eine sehr wilde Erfahrung: 30 Grad und 95 Prozent Luftfeuchtigkeit. Drei Rennen in drei Tagen – ich war im Finale völlig kraftlos. Es ging nichts. Hinterher stellte sich heraus, dass ich wohl coronainfiziert war.“ Die Saison war also vorbei und es war klar, dass die nächste die Olympiasaison sein würde. Olympia! Erstmals formuliert er sein großes Ziel: „Ich möchte in Paris dabei sein!“ Unfassbar als ,Quasineuling‘ in der Sportart. Und schon wieder sollte ihm die Gesundheit einen Streich spielen. Eine heftige Coronainfektion mit anschließender Herzmuskelentzündung setzte ihm zu. Was für ein Rückschlag. 

Doch dank mehrerer Trainingslager in Portugal und Südafrika erholte er sich gut. Nun gab es mental einiges zu verarbeiten. Dabei hilft ihm inzwischen eine Sportpsychologin. Auch unterstützt ihn der ASC Göttingen intensiv, und er hat dank des Meistertitels auch einige Sponsoren, mit Puma sogar einen Ausrüster. Förderung vom Deutschen Leichtathletik Verband (DLV) erhält er allerdings kaum und quittiert dies mit absolutem Unverständnis. Ende Mai verpasst er die Qualifikation für die Europameisterschaft „trotz persönlicher Bestleistung in einem Rennen, dessen Tempo die anderen Läufer zu Beginn zu sehr verschleppt haben“, wie Oberbeck sagt, nur knapp um acht Hundertstel. Auch hier gibt es keine Unterstützung vom DLV, denn der entscheidet sich gegen eine mögliche Nachnominierung.  Derzeit bereitet er sich weiter intensiv vor, gibt in jedem Training 100 Prozent. „Ich schöpfe Kraft aus der Erinnerung an die gefilmten Szenen meiner Familie, als ich Deutscher Meister wurde und alle mitfieberten“, spricht er über seine Motivation. Er hört jetzt mehr auf seinen Körper, stärkt den Rücken, der bei großen Menschen immer anfällig ist und ernährt sich fleischarm. 

Zwei Wege gibt es für ihn, seinen großen Traum in Paris zu erleben: Entweder schafft er die Olympianorm von 1:44,70, oder er qualifiziert sich über die Weltrangliste für die noch freien Startplätze. Beides ist möglich. Luis Oberbeck hofft, die Norm zu erreichen und sammelt gleichzeitig Punkte für die Weltrangliste. Neben der Deutschen Meisterschaft plant er, noch an ein bis zwei weiteren Rennen an den Start zu gehen [Anm. der Red.: Alle Entscheidungen fielen/fallen nach Redaktionsschluss bzw. nach Veröffentlichung dieser Ausgabe]. „Wenn man die Chance hat, muss man alles reinlegen“, sagt er und versprüht trotz der unheimlich hohen Hürden einen ansteckenden Optimismus: „Ich traue es mir zu – in Paris dabei zu sein, wäre das Allergrößte!“ Ob er mit dieser Geschichte tatsächlich zum Film­helden würde, bleibt offen. Aber vielleicht werden sich die Senioren mit den Walkingstöcken an den schnellen jungen Mann im Jahnstadion erinnern, wenn sie ihn im Fernsehen auf der Tartanbahn im Stade de France laufen sehen. ƒ

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